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Ein sicherer Hafen

  • willkommendahoam
  • 15. Nov. 2017
  • 3 Min. Lesezeit

Und plötzlich verbringe ich den Abend mit dem Laptop in der Küche, weil im Wohnzimmer jemand schläft. Er ist gekommen, weil er krank ist und sich nicht gut gefühlt hat. Erst hing er ein Weilchen zusammengekauert auf dem Sessel, dann ist er auf der Gästematratze eingeschlafen. Auf Zehenspitzen schleiche ich an meiner eigenen Wohnzimmertüre vorbei und linse hin und wieder hinein um sicher zu gehen, ob alles in Ordnung ist. Inzwischen kenne ich die Jungs gut genug, um zu wissen, dass sie meist nur mit Licht und Hintergrundberieselung durch Musik oder den Fernseher einigermaßen ruhig schlafen können. Also bleibt die Stehlampe auf der Kommode im Flur in dieser Nacht an, deren Licht durch die Milchglastüre im Wohnzimmer noch sanft zu sehen ist. Den Fernseher stelle ich heimlich von einem Actionfilm mit vielen Lichtreizen auf eine politische Talkshow, deren Licht sich kaum verändert und drehe die Lautstärke soweit herunter, dass die Stimmen zu einem eintönigen unverständlichen Gemurmel verschmelzen.

Der Gedanke daran, dass die Jungs einen Platz haben, an den sie kommen können, wenn es ihnen nicht gut geht, stimmt mich sentimental. Wir brauchen doch alle diesen sicheren Hafen, den wir ansteuern können, wenn wir in schwierigen Zeiten nicht alleine sein wollen. Einfach zu wissen, dass da jemand ist, an den wir uns wenden können, wenn es uns nicht gut geht.

Wie unfair und grausam ist es, dass die meisten Geflüchteten diesen Ort nicht haben, an dem sie sich sicher und geborgen fühlen können, an dem jemand für sie da ist, wenn die Sorgen sie zu zerfressen drohen.

Nach dem Abitur habe ich ein halbes Jahr alleine in Guatemala verbracht. Wenige Wochen nach meiner Ankunft wurde ich schwer krank. Tagelang schlief ich mit hohem Fieber und einer Nebenhöhlenvereiterung quasi bewegungslos in meinem Zimmer. Die Kopfschmerzen waren so stark, dass ich bei der kleinsten Bewegung das Gefühl hatte, mein Kopf würde zerspringen. Durch das Fieber war mein Körper so geschwächt, dass ich es kaum vom Bett bis zum Bad schaffte. Stundenlang lag ich auf den kalten Badfliesen, weil ich zu schwach war, um die wenigen Meter zurück zum Bett zu schaffen. Niemand war da, der mir helfen konnte. In meinem Zustand war es völlig unmöglich das Haus zu verlassen und mein Spanisch wäre ohnehin nicht gut genug gewesen, um einem Apotheker oder Arzt meine Beschwerden zu beschreiben. Und so lag ich tagelang ohne Nahrung und Medikamente mit quälenden Schmerzen auf meiner Pritsche. Die Rettung kam Tage später in Form meiner Spanisch-Lehrerin. Da viele Schüler gerne mal den Unterricht schwänzten, wollte sie sich persönlich davon überzeugen, dass ich krank war. Nach einem Blick auf das Häufchen Elend vor ihr, schleifte sie mich aus dem Haus und in die nächste Apotheke. Sie konnte ein paar Brocken Englisch und übersetzte für den Apotheker. Daraufhin drückte man mir sechs Tabletten in die Hand; ohne Schachtel. Ohne Sprachkenntnisse blieb mir nichts anderes übrig, als der Lehrerin und dem Apotheker zu vertrauen und ich war meiner Lehrerin unendlich dankbar für ihre Hilfe. Die Tabletten wirkten Wunder.

Ein bisschen kann ich nachvollziehen, wie man sich fühlt, wenn es einem so richtig schlecht geht und da einfach niemand ist, and den man sich wenden kann. Wenn man völlig alleine ist, in einer Situation, in der man dringend Hilfe braucht. Meine damalige Notlage unterscheidet sich aber in einem Punkt ganz entscheidend von der Situation eines Geflüchteten: Ich hätte jederzeit nachhause fliegen können. Mich in die Arme meiner Familie und Freunde retten. Diese Möglichkeit haben Flüchtlinge nicht. Sie sind oft völlig alleine. der Weg zurück zur Familie, sofern diese überhaupt noch lebt, ist abgeschnitten. Wie unendlich einsam fühlt man sich da? Wie haltlos, verzweifelt, erdrückend alleine?

Ich kann den Jungs die Last ihres Lebens nicht abnehmen. Aber ich kann dieser Ort für sie sein. Der Ort, an dem sie sicher und nicht einsam sind. Ich kann der Mensch sein, an den sie sich wenden können, wenn sie alleine nicht mehr weiterkommen. Sie sollen wissen, dass ich da bin.

Der Bub im Wohnzimmer schläft ruhig und friedlich. Das war nicht immer so. Im ersten Jahr wachte er jede Nacht schreiend auf. Er redete im Schlaf, er wehrte sich gegen Angreifer, die ihn umbringen wollten. Ruhig schlafen konnte er nicht. Er kämpfte jede Nacht ums Überleben.

In meinem Wohnzimmer ist er sicher. Ich werde die Angreifer für ihn bekämpfen, damit er in Frieden schlafen kann.

 
 
 

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