Dendens Flucht - Teil 1
- willkommendahoam
- 21. März 2017
- 4 Min. Lesezeit
Efrem hüpft aufgeregt neben mir her. „Ich habe Angst, ich habe Angst“ murmelt er immer wieder. Das Wort „Aufregung“ kennt er noch nicht. Auf der anderen Straßenseite in gut hundert Metern Entfernung steht eine schmale Person vor einem blauen Haus. „Ich sehe ihn“ sage ich zu Efrem und deute in die Richtung. Efrem beginnt zu lachen. Wir überqueren die Straße und nun hat auch Denden uns entdeckt. Die beiden Buben beginnen aufeinander zuzugehen und liegen sich Sekunden später in den Armen.
Endlich. Dass es tatsächlich noch zu diesem Wiedersehen kommt, hatten wir lange Zeit kaum noch für möglich gehalten. Dreieinhalb Jahre ist es her, dass sich die Brüder zum letzten Mal gesehen haben. Dazwischen liegen Erlebnisse, die man sich kaum vorstellen mag.
Der jüngere, Denden, flüchtete zuerst aus Eritrea. Efrem befand sich zu diesem Zeitpunkt im erzwungenen Militärdienst. Denden war in Äthiopien, als Efrem schließlich die Flucht aus dem Militär gelang. Als sie sich in Äthiopien trafen, war den Brüdern klar: Die Familie könnte niemals genug Geld auftreiben um beiden Jungen die Flucht zu ermöglichen. Da Efrem als Fahnenflüchtiger noch viel gefährdeter war als Denden, beschloss der jüngere nach Eritrea zurück zu gehen. Aufgrund seines Fluchtversuchs wurde er verhaftet und kam ins Gefängnis. Efrem machte sich auf den beschwerlichen Weg in Richtung Europa.
Es war ein kalter Novemberabend 2015, als ich in Efrems Container schaute. Erst wenige Tage zuvor war er aus der Neurologie entlassen worden, wo er aufgrund eines schweren Krampfanfalls eine Woche verbracht hatte. Nun saß er zusammengekauert auf dem Bett, seine Augen starrten ins Leere. Auf Ansprache reagierte er nicht. Ich setze mich neben ihn und eine Weile saßen wir schweigend da. „Denden ist aus Eritrea geflohen“, sagte er schließlich und der Schmerz in seinem Blick war kaum zu ertragen. Er wusste, welche Qualen auf den 16jährigen in den nächsten Monaten warteten. Der Gedanke, dass der kleine Bruder nun würde durchmachen müssen, was er selbst durchgemacht hatte, nahm ihm die Luft zum Atmen.
Es folgten Tage der Stille. Eine quälende, lähmende Stille, die wir in den folgenden Monaten immer wieder ertragen mussten. Es gab kein Lebenszeichen von Denden. Eigentlich hätte er die Familie oder Efrem anrufen müssen, wenn er in Äthiopien oder dem Sudan angekommen wäre. Doch der Anruf blieb aus. Zehn Tage später sickerte die Nachricht durch, Denden sei von Rashaida-Nomaden entführt worden.
Entführungen von Eritreern auf der Flucht, unter anderem durch Mitglieder des Rashaida-Stammes, sind leider keine Seltenheit. Es gibt furchtbare Berichte von Überlebenden, die gefoltert, vergewaltigt, geschlagen und verbrannt wurden. In vielen Fällen werden die Gefangenen an Menschenhändler im Sinai verkauft, die horrende Lösegeldsummen verlangen (25 000 $ und mehr), ihre Opfer auf grausamste Art und Weise foltern und töten, oder ihnen die Organe entnehmen und in Ägypten verkaufen.
Einen Bericht, der sich auf Beschreibungen von Amnesty International über die Praktiken von Rashaida bezieht, ist dieser:
oder dieser:
Ein sehr guter Artikel über die unendliche Hölle im Sinai stammt aus dem SZ Magazin. Ich habe ihn gefunden, als Denden entführt wurde und ich nach Infos suchte. Ich konnte ihn damals nicht zu Ende lesen und auch heute noch fällt es mir schwer. Lest ihn!
18 Tage in einer Welt ohne Menschlichkeit:
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/40203/ (unbedingt lesen!)
Spätestens nachdem ich den SZ-Artikel gelesen hatte, war mir klar, was Efrem schon wusste: Nicht nur war Dendens Leben akut in Gefahr, es wartete die Hölle auf Erden auf ihn.
Tage später erfolgte der erste von vielen Anrufen, die uns über Wochen begleiten sollten. Anrufe von den Entführern mit Geldforderungen und Drohnungen, Denden in den Sinai zu verkaufen oder zu töten, wenn Efrem nicht bezahlte.
Ich gestehe, ich war komplett überfordert. Wir hörten Denden am Telefon weinen und flehen, er erzählte, dass andere Gefangene bereits verkaufen und „verschwunden“ seien. Wir hörten die Entführer schreien. Und ich sah Efrem zusammenbrechen. Der Sudan schien so unendlich weit weg, Efrem aber, der minutenlang krampfend in meinen Armen lag, war die brutale Realität.
Wir begannen Geld zu sammeln. Bei einem Durchschnittseinkommen von 600 Dollar im Jahr in Eritrea war nicht im Entferntesten daran zu denken, dass die Familie dafür aufkommen konnte. Wir sammelten, während regelmäßig die Drohanrufe der Entführer eingingen. Denden schrie, Efrem war ein Schatten seiner selbst. Er ging kaum noch zur Schule und wenn er ging, bekam er nichts mit. Langsam wurde die Zeit knapp.
Zwei Wochen vor Weihnachten saßen Efrem, Sami und ich in der Wohnung von Freunden und schmiedeten einen Schlachtplan, als der finale Anruf der Entführer erfolgte: Wenn Efrem nicht vor Mitternacht bezahlt, wird Denden umgebracht. Efrem erstarrte und verstummte, Sami übernahm die Verhandlungen mit den Kidnappern. Wir organisierten in aller Eile das fehlende Geld, die Entführer nannten eine Person, an die Efrem das Geld übergeben sollte. Eigentlich schien alles klar. Dann kam heraus: Die Person ist in Köln. Da war es fünf Uhr am Nachmittag, noch sieben Stunden bis Mitternacht.
Ein Freund lieh mir sein Auto. Um 23 Uhr waren wir in Köln. Fasziniert schauten die Jungs auf die leuchtenden Schiffe in der Dunkelheit. Über den geschlossenen Weihnachtsmarkt hasteten wir zum Hauptbahnhof. Um den Kontaktmann nicht zu erschrecken, wartete ich in der Bahnhofshalle auf die Buben. Es waren die längsten 20 Minuten meines Lebens. Die Zeit schien still zu stehen, während ich hilflos durch die Halle wanderte und überlegte, was ich tun würde, wenn die Jungs nicht mehr auftauchen sollten. Sie tauchten auf. Wir spazierten im Dunklen über die Hohenzollernbrücke, schauten die Liebesschlösser an und die Schiffe, gingen zum Auto und fuhren zurück. Um 6:30 Uhr am Morgen waren wir wieder zuhause.
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