DIE GEScHichte
WIE ALLES BEGANN
Die Jungs lernte ich im November 2014 kennen. Ich war gerade von einem mehrwöchigen Job im Ausland zurückgekehrt. Zu diesem Zeitpunkt geriet die Situation in der Erstaufnahmeeinrichtung unserer Stadt außer Kontrolle. Fast 2400 Menschen befanden sich in den auf 1200 Personen ausgelegten Gebäuden, die Regierung bekam die Lage nicht in den Griff. Schließlich schloss der Bürgermeister eigenhändig die Einrichtung und Geflüchtete wurden über Nacht in improvisierte Notlager gebracht.
Durch Zufall stolperte ich in den sozialen Netzwerken über Einsatzpläne für Ehrenamtliche und trug mich für einen Nachmittag zur Arbeit in der Kleiderkammer eines Notlagers ein. Diese behelfsmäßige Unterkunft mit circa 200 Bewohnern wurde zu diesem Zeitpunkt fast vollständig von Ehrenamtlichen getragen, die Regierung blieb über Wochen quasi unerreichbar.
Aus einem Nachmittag wurden viele und nach kurzer Zeit übernahm ich mit zwei Kollegen die Leitung der Ehrenamtlichen. Betten, Catering und die Security wurden gestellt, der Rest vom Team der freiwilligen Helfer organisiert. Die Menschen, die ohne Ankündigung mit Bussen vor unserer Tür abgesetzt wurden, waren im Normalfall erst seit wenigen Stunden in Deutschland. Sie trugen oftmals seit Wochen die gleiche Kleidung am Körper, viele erschienen nur in Jeans und T-Shirt und erfroren fast im nasskalten deutschen Novemberwetter, so mancher kam ohne Schuhe. Die Menschen hatten zum Teil wochenlang nicht geduscht, waren krank und wurden ohne jegliche Untersuchung in unserer Einrichtung abgesetzt, wo sie in einem Schlafsaal mit 200 anderen Geflüchteten unterkamen.
Die Ehrenamtlichen waren daher u.A. verantwortlich für die ärztliche Versorgung sämtlicher Bewohner, die Ausstattung mit Kleidung, Schuhen, Hygieneartikeln und Handtüchern, organisierten Koffer, Taschen, Deutschkurse, Sport, Nachmittagsprogramm und Ausflüge, kümmerten sich um die Beschaffung von Papieren und versuchten den Ablauf der Transfers in neue Unterkünfte auf menschliche Art zu regeln. Meine Kollegen und ich arbeiteten über Wochen vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, um die Abläufe unserer Einrichtung in einigermaßen geregelte Bahnen zu lenken und den Bewohnern inmitten des Chaos möglichst menschenwürdige Tage zu bieten. Es war eine absolute Mammutaufgabe.
DAS KENNENLERNEN
Inmitten von Menschen, die gerade aus völligen Extremsituationen zu uns gekommen waren, blieb wenig Zeit für den Einzelnen. Wir rannten den größten Teil des Tages, zum Hinsetzen und wirklich kennenlernen gab es kaum Möglichkeiten. In den raren Minuten, in denen uns die Bewohner dann doch ihre Geschichten erzählten - dringend auf der Suche nach jemandem, der ihnen zuhört und ihre Verzweiflung und Trauer versteht und auffängt - hörte man Dinge, die einen bis in den Schlaf verfolgten. Da war der Junge aus Somalia, dessen Vater verschleppt und sein Freund sowie sein Cousin erschossen wurden, bevor auch ihn selbst die Kugeln trafen. Er flüchtete und fand durch Zufall in Libyen seine Schwester wieder. Doch das Boot übers Mittelmeer war heillos überfüllt. Die Schwester fiel über Bord und ertrank vor den Augen des Jungen. Er hat Phantomschmerzen in der angeschossenen Körperhälfte und lag oft über Stunden wimmernd, stöhnend und wie von Sinnen im Schlafsaal. Und da war der junge Mann aus Syrien, der gegen Assad protestiert hatte und festgenommen wurde. Anderthalb Jahre saß er in einem berüchtigten Foltergefängnis des syrischen Präsidenten. Nackt. Anderthalb Jahre wurde er gefoltert, über Tage mit den Händen an der Zimmerdecke aufgehängt. Seine Freunde starben. Sie wurden zu Tode gefoltert oder verhungerten. Der junge Mann hatte durch Zufall überlebt, sein Rücken war offen, der Körper überzogen von Narben. Er schlief eigentlich nie, wanderte nachts stundenlang durch die Stadt.
In einer Ecke neben der Eingangstür schliefen ein paar Jungen aus Eritrea. Sie fielen kaum auf, da sie nie sprachen, nie um etwas baten, nie nach Hilfe verlangten. Doch man sah ihnen an, dass sie auffällig klein und jung waren. Sehr jung. Wahrscheinlich zu jung für unsere Einrichtung, die nur für Erwachsene und Kinder in Begleitung ihrer Eltern gedacht war. Die Jungen wirkten verängstigt, versuchten keine Aufmerksamkeit zu erregen, verbrachten die Tage meist still auf ihren Liegen.
In einer ruhigen Minute setzte ich mich zu ihnen, und erfuhr, was ich vorher nicht für möglich gehalten hätte: die Jungen waren zwischen einem und drei Jahren auf der Flucht. Da waren diese Buben, mit ihren ausgemergelten Körpern und ihren Kindergesichtern und hatten ein mehrjähriges Martyrium hinter sich, in dem sie völlig auf sich alleine gestellt waren. Viel sprechen konnten wir nicht an diesem Abend, denn nur wenige konnten gebrochen Englisch, die anderen sprachen ausschließlich Tigrinya. Doch etwas verstand ich schon: sie hatten seit vielen Monaten bis Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Familien. Die Eltern wussten nicht, dass die Kinder noch lebten.
Da beschlossen wir, eine Ausnahme zu machen und eine unserer wichtigsten Regeln zu brechen: Jeden gleich zu behandeln. Wir kauften zwei einfache Handys, zwei Sim-Karten, jede Menge Guthaben und lotsten ein paar Tage später die Jungen in unser Büro. Und dann standen wir daneben, als Jugendliche nach einer langen Zeit des Schweigens zum ersten Mal wieder die Stimmen ihrer Eltern hörten und sagen konnten, woran zuhause eigentlich keiner mehr geglaubt hatte: das sie leben. Es waren unendlich emotionale Momente und auch heute berührt es mich noch, wenn ich an diese Minuten denke. Zum ersten Mal kam wieder Leben in die Augen der Jungen, sie weinten und lachten zur selben Zeit. An diesem Abend wurden wir Freunde.
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DIE GESCHICHTE DER BUBEN
Alle Buben flohen alleine. Sie lernten sich erst in Deutschland kennen.
Die Heimat der Jungen ist Eritrea, ein kleiner Staat in Ostafrika. Eritrea spaltete sich in einem 30jährigen Krieg von Äthiopien ab und wird seit der Unabhängigkeit 1993 vom gleichen Diktator regiert. Aufgrund der Lage in dem völlig abgeschotteten Land, wird Eritrea auch als Nordkorea Afrikas bezeichnet. Die Bevölkerung ist willkürlichen Verhaftungen, Tötungen, Vergewaltigungen und Folter ausgesetzt. Menschen werden über viele Jahre und ohne Verfahren in Straflagern, Containern und Erdlöchern eingesperrt, die Familien wissen nichts über ihren Verbleib. Sie fliehen vor einem lebenslangen Militärdienst - Menschenrechtsorganisationen sprechen von moderner Sklaverei - Terror und Verfolgung.
Die Buben wuchsen unter ärmlichen Bedingungen bei ihren Familien auf. Salman und Filimon gingen nie zur Schule, die anderen besuchten den Unterricht zwischen fünf und sieben Jahren. Wer nicht mehr zur Schule geht, kann jederzeit zum Militär eingezogen werden. Bei Yonas passierte dies sehr früh, er kam in eine Spezialeinheit, in der junge Buben auf besondere militärische Aufgaben vorbereitet werden. Efrem arbeitete als Teenager in einem Restaurant, er wurde auf dem Weg zur Arbeit auf der Straße geschnappt. Die ersten Monate verbrachte er in unterirdischen Gefängnissen, wäre fast verhungert und von einem Wärter getötet worden. Monatelang sah er kein Tageslicht, hatte keinen Kontakt zu seiner Familie. Dann lernte er schießen und arbeitete als Zwangsarbeiter an einem Staudamm mit. Adil wurde ebenfalls als Jugendlicher eingezogen. Allen drei gelang irgendwann die Flucht, Adil versteckte sich ein Jahr in den Bergen, bevor er es schaffte das Land zu verlassen.
Die anderen Jungen flohen vor der Einberufung, Natu, der Jüngste war da 13 Jahre alt. An der Grenze herrscht ein Schießbefehl, wer erwischt wird, wird erschossen. Die Jungen kamen nach Äthiopien oder in den Sudan. Manche landeten in Camps, einige wurden von einem Nomaden-Stamm entführt, die Lösegelder waren viel zu hoch für ihre Familien. Efrem lief weg, während sie auf ihn schossen. Natu ging nach Ägypten und landete dort für Monate im Gefängnis, bevor man ihn zurück nach Äthiopien brachte. Auf dem Weg durch die Sahara saßen sie tagelang auf Pick-up-Trucks in der glühenden Sonne. Wer einschlief und vom Wagen fiel, wurde zurück gelassen. Menschen starben, weil nicht genug Wasser an Bord war. Die letzten Tage auf dem Weg nach Libyen verbrachten sie auf LKWs, in Containern unter der Ware versteckt, kaum Luft, in unendlicher Hitze.
In Libyen kamen sie in Internierungslager für Flüchtlinge. Irgendwo in der Wüste im Grenzgebiet. Viele Menschen eingepfercht auf engstem Raum. Sie kauerten über Monate auf dem gleichen Fleckchen Erde, nicht genügend Platz um sich zum Schlafen hinzulegen. Es gab eine Mahlzeit am Tag: ein Topf ungesalzene Nudeln für zehn Personen. Wer schnell aß, verbrannte sich den Mund; wer wartete, bekam nichts mehr. Die Jungen wurden willkürlich geschlagen, gefoltert, gedemütigt und gequält. Die Wärter schlugen immer und immer wieder mit einer Eisenstange auf Samis Beine ein. Die knochentiefen Wunden wollten über Monate nicht heilen, obwohl wir sie ihm täglich neu verbanden. Meharis Ellbogen wurde so zertrümmert, dass er nie wieder komplett funktionsfähig sein wird.
Kontakt zu den Familien war verboten. Erlaubt war einzig ein Anruf, um der Familie die Summe mitzuteilen, für die sie freikommen würden. Sie hörten zum ersten Mal seit Monaten die Stimme ihrer Mutter und durften nichts sagen außer dem zu zahlenden Betrag und die Nummer der Kontaktperson. Nach Monaten der Qualen wurden sie nach dem Eingang der Zahlung in die Hauptstadt Tripolis verlegt. Wieder eingesperrt, wieder misshandelt, wieder mussten die Familien bezahlen. Um sie herum tobte der libysche Bürgerkrieg, fielen Bomben, wurde geschossen. Natu sagt, er habe in dieser Zeit aus Angst sein Gehirn verloren. Dann wurden sie nachts auf Boote geschafft. Manche hockten unter Deck, Sami wurde von den Abgasen der Motoren ohnmächtig. Meron saß unter freiem Himmel, nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet schutzlos mehrere Tage im Novemberregen. Natus Boot kreiste vier Tage um Lampedusa ohne anlegen zu dürfen; die Vorräte waren aufgebraucht. Der todkranke Awet wurde von seinem Cousin Yonas an Bord geschleift, er wog noch 37 Kilo.
In Italien wurden Awet, Meron und der bewusstlose Sami von Bord ihrer Boote getragen, weil sie zu schwach waren um zu laufen. Die ersten Tage in Europa verbrachten die Buben in Krankenhäusern, provisorischen Lagern oder schliefen auf der Straße. Und irgendwann erreichten sie Deutschland. Awet kam direkt vom Bahnhof ins Krankenhaus, Efrem landete in einer anderen Stadt und stieß erst später zu unserer Truppe. Die anderen acht wurden innerhalb weniger Tage in unserer Unterkunft untergebracht.
DAS ENTSTEHEN DER GRUPPE
Nun waren sie also da, in einem Land, das ihnen fremder nicht sein konnte. Sie wussten nichts über Deutschland, gingen davon aus, dass man in ganz Europa Englisch spricht. Es dauerte zwei Wochen, bis sie erkannten, dass das, was wir sprachen nicht Englisch war. Das jahrelange "Auf-der-Hut-sein-müssen" wich einer unendlichen Müdigkeit und Erschöpfung, oft lagen sie stundenlang regungslosen auf ihren Pritschen und starrten ins Leere. Die ständige Verfolgung und Misshandlungen hatten sie Menschen gegenüber extrem misstrauisch gemacht, sodass sie sich stets darum bemühten, nur ja nicht aufzufallen. Durch die fehlenden Sprachkenntnisse, wäre es ihnen sowieso kaum möglich gewesen über ihre Bedürfnisse und Sorgen zu sprechen, auch wenn sie das gewollt hätten.
Zu diesem Zeitpunkt lief bei der Regierung noch immer alles drunter und drüber. Menschen wurden nicht registriert, Unterlagen verschwanden, Erstuntersuchungen fanden nicht statt, Gelder wurden nicht ausgezahlt. Es war klar, dass die Jungen viel Unterstützung brauchen würden, um in dem Behördenchaos nicht unterzugehen. Und so begann ich mich neben der Arbeit in der Erstaufnahme auch noch um die Papiere der Buben zu kümmern. In diesen Wochen wuchsen die Jungen zu einer engen Schicksalsgemeinschaft zusammen. Fern ihrer Familien und allem was sie kannten, klammerten sie sich aneinander und es wurde immer deutlicher, dass eine Trennung nach dem was sie durchgemacht hatten, zu viel für sie war.
Ich begann darum zu kämpfen, die acht Jungen zusammen unterbringen zu lassen, was anfangs völlig unmöglich erschien. Sie waren nicht miteinander verwandt und die wenigen Mitarbeiter, die bei der Regierung noch erreicht werden konnten, waren rund um die Uhr damit beschäftigt, dem Chaos Herr zu werden. Einzelschicksale waren da noch weniger als sonst von Bedeutung. Es war ein erschöpfender und Wochen dauernder Kampf, doch am letzten Öffnungstag unserer provisorischen Einrichtung wurden die Buben tatsächlich zusammen verlegt. Sie kamen in eine Container-Unterkunft im Umkreis der Stadt. Efrem kannte ich aus einem anderen Camp, er wurde später durch Zufall in die Einrichtung der Jungen verlegt und freundete sich mit ihnen an. Awet stieß nach einer Kopf-OP und sechs Monaten Krankenhaus über seinen Cousin Yonas dazu.
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DIE ENTWICKLUNG
Über die Zeit veränderten sich die Beziehungen. Anfangs war die Gruppe recht eng verflochten, nach und nach lernten die Jungen neue Leute kennen und entwickelten eigene Freundeskreise. Einige kamen schnell alleine zurecht, andere brauchten viel Unterstützung. Es gibt Phasen, in denen monatelang alles ruhig verläuft und dann sind plötzlich ganz viele Probleme auf einmal zu lösen. Natürlich ist die Beziehung zu manchen Jungs enger als zu anderen und auch das verschiebt sich immer wieder, je nach dem, an welchem Punkt im Leben sie gerade stehen. Mit der Zeit kamen außerdem immer wieder neue Personen ins Bild. Geschwister der Jungs kamen nach Deutschland, Menschen, die mich von der Arbeit mit den Buben kannten, fragten nach Hilfe, oder die Jungs baten mich, einem ihrer Freunde zu helfen.