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Warten auf Denden

  • willkommendahoam
  • 1. Juni 2016
  • 2 Min. Lesezeit

In diesem Moment liegt Efrem neben mir auf dem Sofa und schläft. Es ist fünf Uhr am Nachmittag, mehrmals hat er in den letzten Minuten versucht die Männer, die seinen Bruder in Libyen gefangen gehalten haben, anzurufen. Es hat niemand geantwortet. Den letzten Kontakt mit Denden hatte er vor zehn Tagen. Damals haben wir die letzte Summe zur Befreiung des 16jährigen gezahlt. Man hatte Efrem zugesagt, dass sein kleiner Bruder wenige Tage später auf ein Boot gebracht werden sollte. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört. In der letzten Woche sind auf dem Mittelmeer wohl an die tausend Menschen gestorben. In Europa ist kaum noch jemand über solche Nachrichten schockiert. Man hat sich an die sterbenden Flüchtlinge gewöhnt.

Eintausend Tote, das ist eine hohe Zahl - aber auch eine sehr abstrakte, wenn man nicht gerade auf einen 16jährigen Jungen wartet.

Denden habe ich zum ersten Mal auf einem Foto gesehen. Ein kleines, zerknittertes, ausgebleichtes Bildchen, auf dem Efrem und Denden stolz in Fußballoutfits posieren. Zwei kleine Buben mit sanften braunen Augen und ernstem Blick. Dann wurde Denden auf der Flucht von Rashaida-Nomaden entführt und ich hörte ihn am Telefon weinend um sein Leben flehen. Was er sagte, verstand ich nicht, doch Todesangst bedarf keiner Worte.

Fünfeinhalb Monate begleiteten wir den Jungen von Deutschland aus auf seiner gefährlichen Flucht durch Afrika. Efrem hatte den kleinen Bruder gebeten, sich vor der Abfahrt noch einmal zu melden. Da Denden jedoch kein Handy besitzt, hätte er die Aufseher um einen Anruf bitten müssen. Und das diese einem unnötigen - da nicht mit einer Geldforderung verbundenen - Telefonat zugestimmt hätten, ist unwahrscheinlich. Und so bleibt nichts mehr, außer zu warten und zu hoffen.

Efrem hat erst gestern Abend erfahren, wie viele Menschen tatsächlich gestorben sind. Er ging lange von 30 Toten aus, bis er Trauermeldungen anderer Eritreer auf Facebook sah. "Was schreiben die da?" hatte er mich gefragt. Da habe ich es ihm erzählt. Normalerweise bin ich die erste, die die Buben aus den Betten jagt, wenn sie den Tag verschlafen. Doch Efrem war in der Schule. Trotz allem. Er hat Essen gemacht und gegessen, was ihm in letzter Zeit sehr schwer fällt. Und er hat versucht in Libyen anzurufen um in Erfahrung zu bringen, ob sein Bruder vielleicht noch dort ist. Als dieser Versuch fehlschlug, hat er sich zusammengerollt und ist eingeschlafen.

Auch meine Gedanken kreisen immer wieder um Denden. Ist er vielleicht noch in Libyen? Unwahrscheinlich, bei dem guten Wetter der letzten Woche. Ist er in Italien, vielleicht im Krankenhaus oder einem Auffanglager und hat einfach keine Möglichkeit zu telefonieren? Und was wäre passiert, wenn sein Boot gekentert wäre? Efrem kann schwimmen, vielleicht kann Denden es auch. Das könnte ein Vorteil gewesen sein. Aber die Afrikaner sind oft auf dem unteren Deck eingesperrt, die Klappe zu oder bewacht von einem Schleuser. Hatte aus dem unteren Deck überhaupt jemand eine Chance zu überleben? Ich möchte nicht darüber nachdenken, weil alle Gedankenspiele ins Leere führen. Und so bleibt uns nur zu warten und bei jedem Anruf auf die Nummer zu starren und auf eine +39 zu hoffen.

1000 Tote ist keine abstrakte Zahl. 1000 Tote, das sind Menschen wie Denden, die alles zurücklassen mussten, um ein Leben zu haben. 1000 Tote sind viel zu viele, wenn man auf die Ankunft eines Jungen wartet.

 
 
 

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